„Der Schmerz trägt keine Bedeutung“ (Paul Valéry) oder: Gibt es Ereignisse, die den Kulturwissenschaften den Atem verschlagen?
In einem Nachtrag zu seinen Buch Einbahnstraße aus dem, Jahre 1928 schreibt Walter Benjamin:
„Wäre nicht jede Krankheit heilbar, die sich auf einem genügend breiten, tiefen Strome des Erzählens verflössen ließe? Es fällt darauf ein noch helleres Licht, wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt, gewissermaßen als Damm die Lebenssäfte absperrt, die als Nebenflüsse in den großen epischen Strom des Daseins – des erzählbaren Lebens – münden wollen.“
„Wenn man bedenkt, daß Schmerz sich nicht erzählen läßt“ – diese Beobachtung von Benjamin führt uns ins Zentrum einer Kontroverse in den Kulturwissenschaften. Ich betrachte sie als einen Einwurf gegen den mainstream, der die deutschen Kulturwissenschaften im letzten Jahrzehnt beherrschte. Seine Parole: „Auch Schmerz ist eine kulturelle Konstruktion!“ Um den Schmerz gibt es also einen aufschlussreichen Richtungskampf, an dem Mediziner, Neurowissenschaftler, kognitive Psychologen, Soziologen, Literaturwissenschaftler und Philosophen beteiligt sind. Seine extremen Pole könnte man folgendermaßen bestimmen:
Schmerz durchschlägt alle Zeichensysteme. Er ist von keiner kulturellen Grammatik geprägt. Schmerz ist ein Indiz des vor-diskursiven Körpers. Im Schmerz legt der Körper die Raster der Medialität ab.
Die Gegenreaktion ist ebenso entschieden: Alle Äußerungsformen des Schmerzes stammen aus einem alten Archiv rhetorischer Formeln. Dass Schmerz als Durchgriff auf die Unmittelbarkeit des Körpers erscheint, ist nur ein medialer Effekt. Auch im Namen des Schmerzes gibt es nur Ausschnitte aus einer Bibliothek zu sehen.
Es ist deutlich, dass hier offenbar über zwei verschiedene Phänomene geurteilt wird. Einmal über das physiologisch bedingte Empfinden, ein andermal über Performanzformen des Schmerzes. Insofern könnte man beide Positionen nebeneinander bestehen lassen – wenn klar wäre, wie sich Kommunikationsformen des Schmerzes, das Ereignis in der Erfahrungswelt des Betroffenen, physiologische Ursachen und Darstellungsformen zueinander verhalten. Das wirft die weitere Frage auf, ob Kulturwissenschaften überhaupt etwas über den Schmerz jenseits seiner ußerungsformen sagen können. Es gibt Dinge in der Welt, über die die Kulturwissenschaften ruhig auch mal schweigen könnten, um die Sach den Ärzten zu überlassen. Wenn diese sich nicht wieder ratsuchend an sie werden würden.